Deutschland hat ein Problem mit der Wohnraumverteilung. Ältere Menschen blockieren große Wohnungen, die junge Familien dringend brauchen. Ein Dilemma für Städte und Wohnungsunternehmen. Doch es gibt Auswege aus der Wohnungsnot.
Die Zahlen sind erschreckend: Laut einer Studie des Pestel-Instituts und des Bauforschungsinstituts ARGE werden in Deutschland im Jahr 2023 mehr als 700.000 Wohnungen fehlen. Das ist das größte Wohnungsdefizit seit mehr als 20 Jahren. Der Bedarf an Wohnraum wächst rasant. Vor allem in den Großstädten führt das zu einem immer häufigeren Phänomen: Immer mehr Menschen leben auf zu wenig Wohnraum - das Wohnzimmer ist gleichzeitig Arbeitszimmer, das wiederum auch noch Schlafzimmer. Mehr Wohnfläche können sie sich nicht leisten.
Knappes Bauland, hohe Mieten und die Urbanisierung machen das Wohnen in deutschen Großstädten zu einem Privileg. Der russische Angriff auf die Ukraine und die damit verbundenen Fluchtbewegungen erhöhen den Druck auf den deutschen Wohnungsmarkt zusätzlich. Die Nachfrage steigt, während in Deutschland zu wenig neue Wohnungen gebaut werden.
Verschärft wird die Wohnungsnot durch die ungleiche Verteilung des knappen Wohnraums. Junge Familien finden hierzulande oft keine passende und bezahlbare Wohnung, während ältere Menschen auf vielen Quadratmetern leben. Das zeigen Daten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumentwicklung (BBSR).
„Die Gesellschaft wird sich auf unabsehbare Zeit mit der Wohnungsnot auseinandersetzen müssen“, sagte kürzlich Matthias Günther, Vorstand des Pestel-Instituts . Er ist der Meinung, dass diejenigen, die besonders viel Fläche verbrauchen - und das wären den Daten zufolge vor allem viele ältere Menschen - zur Kasse gebeten werden sollten und verweist auf einen Vorschlag des Umweltbundesamtes: „Wer auf besonders vielen Quadratmetern wohnt, sollte auch mehr Steuern zahlen.“
Der hohe Wohnraumbedarf insbesondere älterer Menschen in Deutschland ist darauf zurückzuführen, dass Eltern nach dem Auszug der Kinder häufig in der großen Familienwohnung verbleiben. Insbesondere Eigentümer sind selten bereit, nach der Familienphase in eine kleinere Wohnung umzuziehen. Darüber hinaus führt die steigende Lebenserwartung generell zu einer Zunahme der Zahl älterer Menschen in Deutschland, die dann auch insgesamt mehr Wohnraum beanspruchen.
„Wenn Pensionisten auf zu großen Flächen wohnen, aber alle anderen gut versorgt sind, dann interessiert das keinen, wer wie groß wohnt“, betont Reiner Braun, Wohnungsmarktanalyst und Vorstandsvorsitzender des Empirica-Instituts, im Interview mit FOCUS online . Erst ein Mangel bringe das Thema auf. „Knappheit und ein längeres Leben, beides zusammen macht die Situation in Deutschland akut.“
Ältere Menschen leben häufiger allein als jüngere. Die höhere Lebenserwartung führt bei Paaren häufig dazu, dass ein Partner deutlich länger lebt als der andere - und dann meist als Single in der ehemals gemeinsamen Wohnung. Geht es ihnen im Alter körperlich noch so gut, dass sie nicht in ein Pflegeheim müssen, bleiben sie oft in den Häusern und Wohnungen, die vor Jahren für das Leben als Familie gedacht waren.
Einpersonenhaushalte beanspruchen daher im Durchschnitt immer mehr Wohnfläche. Die Wohnfläche von Einpersonenhaushalten im Jahr 2018 lag bei rund 68 Quadratmetern. Zum Vergleich: Die Wohnfläche pro Kopf in Zweipersonenhaushalten lag im selben Jahr bei rund 49 Quadratmetern. Allerdings ist auch die Wohnfläche pro Kopf insgesamt zuletzt gestiegen: im Zeitraum von 2011 bis 2021 um 1,6 Quadratmeter.
In den kommenden Jahren könnte sich das Problem noch verschärfen: Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Einpersonenhaushalte bis 2040 auf 19,3 Millionen steigen wird. Im Jahr 2018 waren es noch zwei Millionen weniger. 24 Prozent der Menschen in Privathaushalten in Deutschland werden dann allein leben - drei Prozent mehr als 2018. Die Zahl der Menschen in Mehrpersonenhaushalten wird dagegen langfristig sinken.
Familien, die größere, innerstädtische Wohnungen in guten Lagen suchen, stehen vor einem Problem: Sie haben keine Auswahl. In Deutschland gibt es zu wenige große Wohnungen. Zudem hindern die hohen Mieten in den Großstädten umzugswillige ältere Menschen oft daran, ihre große, familiengerechte Wohnung aufzugeben und in eine kleinere Wohnung zu ziehen.
Zwar sind auch die Bestandsmieten in den letzten Jahren gestiegen, allerdings eher moderat. „Altmietverträge sind wegen des Mieterschutzes nichts anderes als Wertpapiere in Deutschland“, erklärt Braun. Bei Neuvermietungen auf dem privaten Wohnungsmarkt sind die Preise deutlich stärker gestiegen. Wer umzieht, muss also in der Regel pro Quadratmeter deutlich tiefer in die Tasche greifen. „Im Zweifel würde die Witwe beispielsweise für die kleinere Wohnung mehr bezahlen. Warum sollte sie das machen?“
Dabei wäre die Bereitschaft zum Umzug da: Umfragen zeigen, dass jeder zweite Deutsche im Alter auf eine große Wohnung verzichten würde. „Es ist ja so, dass Rentner nicht aus Jux und Tollerei in den großen Wohnungen bleiben. Ein Hauptgrund ist: Sie können es sich nur schlecht leisten, umzuziehen“, sagt Braun. Finanziell ist ein Umzug wenig attraktiv und für viele gar nicht möglich. Ein Dilemma für die Städte - und auch für die Wohnungsunternehmen. Bis zu zehn Millionen Quadratmeter Wohnraum könnten laut einer Studie durch Aus-, An- oder Umbauten in frei werdenden Häusern oder Wohnungen älterer Menschen frei werden.
Um das Dilemma zu lösen, werden Städte aktiv. So hat die Stadt München 2020 eine Wohnungstauschbörse ins Leben gerufen. Die Idee: Die Plattform soll Seniorinnen und Senioren, denen ihre Wohnung zu groß geworden ist, mit Familien zusammenbringen, denen ihre Wohnung zu klein geworden ist. Eine erste Bilanz der Stadt München im vergangenen Jahr zeigt: Unter den ersten 15 Wohnungstauschern waren zwölf Familien, die sich räumlich verbessert haben. Die größte getauschte Wohnung war nach Angaben des Sozialreferats 105 Quadratmeter groß und wurde von einer Person bewohnt. Heute wohnt dort eine vierköpfige Familie.
Um ältere Menschen zu motivieren, ihre großen Wohnungen für Familien freizumachen, garantieren die städtischen Wohnungsbaugesellschaften, dass die neue Miete nicht höher ist als die alte. Auch der Umzug wird finanziell unterstützt, ebenso wie Umbaumaßnahmen, um kleinere Wohnungen barrierefrei zu gestalten. Um mehr Menschen zum Tausch zu motivieren, lockt die Stadt Frankfurt am Main sogar zusätzlich mit Umzugsprämien für alle, die ihre große Wohnung gegen eine kleinere tauschen. Das Motto lautet: „Aus groß mach passend“.
In Berlin ist das Konzept des Wohnungstauschs bereits seit einiger Zeit erprobt. In der Hauptstadt haben sich sechs landeseigene Wohnungsunternehmen zu einem Online-Wohnungstauschportal zusammengeschlossen. Auch hier wird bei einem Tausch auf die Neuvermietungspauschale verzichtet und der neue Mieter steigt direkt in die Nettokaltmiete des Vormieters ein. Doch es zeigt sich: Das Verhältnis stimmt nicht. Auf eine Person, die eine kleinere Wohnung sucht, kommen mehr als viermal so viele, die eine große Wohnung suchen. Das Problem bleibt. Es gibt zu wenig große Wohnungen und zu wenig Menschen, die ausziehen wollen.
Braun ist vom Wohnungstauschkonzept nicht überzeugt: „Selbst, wenn dieses Matching von Suchen und Finden der passenden Wohnung technisch oder organisatorisch funktionieren würde, es gibt einfach immer mehr Leute, die eine große Wohnung suchen, als Leute, die eine große Wohnung haben.“ Er sieht neben den finanziellen Hürden außerdem administrative und logistische Probleme. „Es gibt große emotionale Barrieren. Es gibt da diesen passenden Satz: Einen alten Baum verpflanzt man nicht! Nehmen wir wieder die Witwe, die seit 30, 40 Jahren beim selben Bäcker, Metzger oder Lebensmittelgeschäft einkauft und zum immer selben Friseur geht. Für sie bricht eine Welt zusammen.“ Und wenn man tauscht, müsse der ganze Umzug und alles, was damit zusammenhängt, am selben Tag geschehen. „Oder man lagert alles irgendwo ein und wohnt bei Verwandten. Aber für die Witwe beispielsweise ist das schon eine echte Herausforderung. Und auch für die junge Familie ist das schwierig.“
Neben diesen Initiativen sind weitere Lösungsansätze gefragt. Großstädte gehen neue Wege: Dächer ausbauen, Supermärkte und Parkhäuser aufstocken, Büro- und Gewerbeflächen umwidmen. Hamburg zum Beispiel will ein ungenutztes Parkhaus zu einem Wohnhaus mit 80 Wohneinheiten umbauen. Damit will die Stadt den steigenden Rohstoffpreisen und der Baulandknappheit ein Schnippchen schlagen. Auch der Trend zum Home-Office und die wachsende Zahl von Online-Shops führen dazu, dass immer weniger Büroflächen vermietet werden. Eine Studie der TU Darmstadt und des Bauforschungsinstituts ARGE zu diesem Thema hat ergeben, dass bundesweit mehr als zwei Millionen zusätzliche Wohnungen allein durch Dachaufstockungen bei Altbauten ab den 1950er Jahren und bei Bürokomplexen möglich wären.
Außerdem könnten ungenutzte Fabriken und Büros zu 1,9 Millionen Wohnungen umgebaut werden. Und: Der Umbau eines Bürogebäudes in ein Wohnhaus würde laut ARGE rund 1100 Euro pro Quadratmeter kosten. Das wäre günstiger als ein Neubau und ökologisch nachhaltiger. So könnte Wohnraum für Jung und Alt geschaffen werden.
Eine Entlastung des Wohnungsmarktes wollen die Städte zunehmend auch durch „Cluster-Wohnungen“ erreichen. Diese sogenannten Business-WGs sind kleine, voll ausgestattete Kleinstwohnungen mit einem gemeinsamen Gemeinschaftsraum, die von einer Gemeinschaft junger Erwachsener bewohnt werden, die sich für Mobilität und Flexibilität entscheiden und nicht an einen Ort gebunden sein wollen.
Darüber hinaus gibt es in Deutschland einen Trend zu Kleinstwohnungen, so genannten Mikroapartments, die zwischen 20 und 35 Quadratmeter groß sind und aufgrund ihrer geringen Größe eine multifunktionale Möblierung und intelligente Raumnutzung erfordern. Ein Phänomen, das bisher vor allem aus Asien bekannt ist. Ziel ist es, auf gleichem Bauland mehr Wohnraum zu schaffen als mit herkömmlichen Wohnungen. Und wenn das nicht reicht, muss aufgestockt gebaut werden. Auch hier sind Amerika und Asien Vorreiter. In Deutschland ist das Wohnen in der Höhe noch eher selten.
Aber eines muss den Städten klar sein: Wenn sie ihr Wohnungsproblem wirklich in den Griff bekommen wollen, müssen sie all dies in Zukunft auch zulassen und anstreben, um bezahlbaren Wohnraum für Jung und Alt zu ermöglichen.
(Quelle: tsa, FOCUS Online)
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